Kurzgeschichte “Diagnose ungewiss”

Heute möchte ich euch eine Kurzgeschichte von Daniela Herbst präsentieren. Die schokosüchtige Vegetarierin aus Augsburg schreibt und liest am liebsten in den Genres Horror, Thriller und Fantasy.
Wer mehr über sie erfahren möchte, kann ihren Blog besuchen und dort u.a. weitere tolle Geschichten von ihr lesen.

Jetzt aber erstmal viel Spaß beim Lesen von:

 

 

 

Diagnose ungewiss

 
Mit einem sanften Lächeln schenkte Doktor Fend Tee in zwei Tassen und stellte sie klappernd auf dem Tisch ab. »Bitte. Bedienen Sie sich …«
Der Mann, der ihm gegenübersaß, schüttelte freundlich den Kopf. Seine knochigen Hände
spielten nervös mit dem Aufschlag seines Mantels und er hielt den Blick gesenkt.
Offenbar war dies sein erster Besuch bei einem Psychotherapeuten. Fend kannte das schon. Für
manche Menschen schien es eine schier unüberbrückbare Hürde zu sein, laut
auszusprechen, was sie bedrückte. In solchen Fällen sprach er das Problem gerne
direkt an. Damit ließ sich das Eis am schnellsten brechen.
»Also …«,
begann er und schlug die Beine übereinander. »Sie haben Angst, dass 2013 die
Welt untergeht?«
»Nein.«
Sein Gegenüber gluckste in einer Mischung aus Belustigung und Resignation. »Nicht
wirklich.«
»Nein?«
Fend straffte verblüfft die Schultern. »Aber wegen derartiger Vorhersagen sind Sie
doch zu mir gekommen?«
»Stimmt.«
Etwas aus dem Konzept geworfen, langte der Therapeut nach seiner Tasse, versenkte drei Stück
Würfelzucker darin und rührte das Gebräu kräftig durch. Natürlich würde es
trotzdem wie Socken in Wasser schmecken, nichtsdestotrotz er hatte seiner Frau
nun einmal in die Hand versprochen, seinen Kaffeekonsum drastisch
einzuschränken.
»In Ordnung«, sagte er zögernd und nippte angewidert an dem gesüßten Sud. »Dann glauben Sie
jetzt plötzlich nicht mehr, dass die Welt in diesem Jahr untergeht?«
»Oh bitte …«
Das fahle Gesicht unter der Kapuze hob sich ein wenig. »Für wie naiv halten Sie
mich? Alles bloß hohles Geschwätz! Eine Verschwörung der Grußkartenindustrie!«
Verdrängungsmechanismen.
Unterdrückte Phobie. Zwanghaftes Bedürfnis, witzig zu sein. Beiläufig
würgte Fend an seinem Tee, griff sich einen Stift und notierte die Stichworte
auf seinem Block. Sie ergaben ein gleichschenkliges Dreieck mit einem dicken
Fragezeichen in der Mitte. Schön, wenn man Geometrielehrer war; weniger gut bei
der Lösung psychischer Blockaden.
»Herr …«, er schielte auf den Anmeldezettel und versuchte, die krakelige Handschrift seines
Patienten zu entziffern. »Erbe? Esde?«
»Ende.«
»Herr Ende«, setzte Fend erneut an. »Falls ich Sie richtig verstehe, macht es Sie wütend,
Angst zu haben, obwohl Sie eigentlich wissen, dass kein Grund zur Angst besteht.«
Der Mann ihm gegenüber riss die wässrigen Augen auf. Sein grauer Mund verformte sich zu
einer dünnen Linie und seine Stirn mutierte zu einem frisch bestellten Acker.
Volltreffer!
Zufrieden lehnte sich der Therapeut in seinem Sessel zurück und schlug sich
gedanklich auf die Schulter.
»So ein Blödsinn! Ich bin sauer, weil das allmählich an Mobbing grenzt!«
»Hä?« Der Psychotherapeut blinzelte. »Mobbing? Wie?« Er schluckte hart und brauchte einen
Moment, um seine Sprache wiederzufinden. »Würden Sie mir das bitte etwas näher
erläutern?«
Der andere nickte verständig.
Als gelte es einem Kind das Geheimnis des Klapperstorchs zu erklären beugte er sich vor,
verschränkte die Finger und seufzte gedehnt. »Seit Jahrhunderten versprechen
die mir schon den Weltuntergang. 30 n.Chr., 70 n.Chr., 1033, 1186, 1260, 1500,
1692, 1891, 1914, 1960, 1998, 1999, 2000, 2012, 2013 – und so weiter und so
fort. Was ist passiert? Nichts!«
Ein bitteres Grinsen legte die wächserne Haut in Falten. »Jedes Mal freue ich mich auf die
Rente und muss am nächsten Tag enttäuscht feststellen, dass es wieder bloß
Panikmache war!« Das Grinsen wurde breiter. »Verstehen Sie mich nicht falsch,
Doktor – ich mag meinen Job. Aber ein bisschen Freizeit wäre zur Abwechslung
auch mal ganz nett. Ich könnte ausschlafen oder mir ein Hobby zulegen.«
»Ho … Hobby?«
»Gartenarbeit zum Beispiel.« Ohne hinzusehen, zog der Mann eine Sense aus dem Mantel und
hielt sie dem Psychotherapeuten direkt vor die Nase. »Soll entspannend wirken.«
Scheiße!
Fend zuckte in seinem Sessel zurück.
»Okay, wahrscheinlich nicht ganz das Richtige für mich. Man sagt mir nicht gerade
einen grünen Daumen nach.« Er zwinkerte. »Außerdem bin ich quasi mit meinem
Beruf verheiratet. In spätestens hundert Jahren würde ich mich garantiert
langweilen.« Sein Kopf neigte sich zur Seite. »Es geht mir nur ums Prinzip.«
Unangenehme Stille hing zwischen den vier Wänden.
»Es tut mir leid …« Fend leckte sich die Lippen. »Ich fürchte, ich kann ihnen bei Ihrem
Problem nicht helfen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte der andere und erhob sich langsam. »Ich musste
mir das nur mal von der Seele reden.« Übergangslos streckte er ihm die Hand hin
und Fend ergriff sie zögernd. »Danke fürs Zuhören, Doktor.«
»Gern geschehen, Herr Ende … schätze ich …« Stoisch beobachtete er seinen Patienten zur Tür
schlendern.
»Ach und Doktor?«
»Ja?«
»Gönnen Sie sich ruhig ihren Kaffee. Das ändert auch nichts mehr.« Damit glitt er lachend durch
den Rahmen und verschwand endgültig aus dem Behandlungszimmer.
Ende
Ähnliche Geschichten wie diese findet man in ihrem Ebook “Zum Teufel mit dem Jenseits!”, das man hier bei Amazon kaufen kann.
 

Kurzbeschreibung:

Manchmal reicht es nicht, eine Leiche einfach nur zu begraben, man muss ihr außerdem noch die Schaufel über den Schädel ziehen, damit sie auch liegen bleibt.
Der Tod ist relativ und auf dem Weg zur anderen Seite gibt es mehr Grauzonen, Schlupflöcher und Abzweigungen, als man vielleicht denkt …
Geister, Zombies, ein desillusionierter Vampir, ein heimgesuchter Werwolf, merkwürdige Begegnungen und der Sensenmann, der sich vom Teufel gemobbt fühlt. Sechs Geschichten, die auf unterschiedliche Weise erzählen, dass der finale Abgang eben doch vermeidbar sein kann.

 

Meine persönliche Meinung:
Daniela hat einfach immer sehr interessante Einfälle und kann diese auch ebenso spannend erzählen. Nachdem ich ihr anderes Ebook “Kleincrime” verschlungen habe, war ich so inspiriert von ihrer Art, Überraschungen und Wendungen in eine Geschichte einzufügen, dass ich in nur einer Woche mein Ebook “Leckerbissen” geschrieben habe, das dem selben Schema folgt. Da habe ich wieder einmal gemerkt, wie wichtig es als Autor ist, andere Bücher zu lesen!
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2 Replies to “Kurzgeschichte “Diagnose ungewiss””

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